Stand: 29.06.2022 14:11
Das Statistische Bundesamt schätzt die Inflationsrate im Juni auf 7,6 Prozent. Die von der EU-Statistikbehörde errechnete Inflationsrate dürfte noch einmal deutlich abweichen. Was ist sinnvoller?
Von Till Bücker, tagesschau.de
Seit Monaten müssen Verbraucher in Deutschland immer tiefer in die Tasche greifen. Die Inflationsrate stieg im Mai auf den höchsten Stand seit der ersten Ölkrise im Winter 1973/1974. Laut Statistischem Bundesamt (Destatis) lagen die Preise um 7,9 Prozent höher als im Mai 2021 und stiegen im wiedervereinigten Deutschland so stark wie nie zuvor. Für Deutschland errechnete das Statistische Amt der Europäischen Union (Eurostat) eine noch höhere Inflationsrate von 8,7 Prozent. Damit liegt der Preisanstieg in Deutschland über dem Durchschnitt der Eurozone, der im Mai bei 8,1 Prozent lag.
Das Statistische Bundesamt hat nun die erste Schätzung der Inflationsrate für Juni veröffentlicht und einen Preisanstieg von 7,6 Prozent angegeben. Die Differenz zwischen den von Destatis und Eurostat berechneten Inflationsraten dürfte auch für Juni groß sein, obwohl EU-Zahlen noch nicht bekannt sind.
Gravierende Abweichungen von fast einem Prozentpunkt bei Angaben zu Preiserhöhungen sind keine Seltenheit mehr. Seit Monaten fallen Eurostat-Zahlen und die errechnete Inflationsrate in Deutschland immer mehr auseinander. Warum das?
Zwei unterschiedliche Indizes als Berechnungsgrundlage
Dies liegt an zwei unterschiedlichen Verbraucherpreisindizes (CPI), die zur Berechnung der Inflationsrate verwendet werden. Der nationale VPI misst die durchschnittliche Entwicklung der Preise aller Waren und Dienstleistungen, die Haushalte für den Konsum kaufen. Darüber hinaus wurde in der Europäischen Union der Harmonisierte Verbraucherpreisindex (HVPI) entwickelt, der Preisänderungen international vergleichbar macht. „Das IAPC versucht, ein Maß für Preisstabilität darzustellen“, sagte Alexander Kriwoluzky, Leiter der Abteilung Makroökonomie am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), gegenüber tagesschau.de. Beim nationalen VPI hingegen geht es weniger um den Vergleich mit anderen Ländern als vielmehr um die realen Lebenshaltungskosten.
„Europäische Länder haben einen IPCA und einen internen nationalen CPI. Das ist gängige Praxis“, erklärt Chris-Gabriel Islam, Referent für Methoden und Kommunikation in der Preisstatistik beim Statistischen Bundesamt, im Gespräch mit tagesschau.de. Welcher Index berücksichtigt wird, hängt vom jeweiligen Einsatzzweck des Nutzers ab. Während die Europäische Zentralbank (EZB) und die Bundesbank in der Geldpolitik mehr auf den HVPI achteten, betrachteten viele Eigentümer oder Tarifverbände aufgrund des reinen Preisvergleichs hauptsächlich den nationalen VPI.
„Die Länder der Eurozone können gleichzeitig mit dem CPI verglichen werden. Der CPI hat den Vorteil, dass er die Entwicklung im Zeitverlauf zeigt und auf spezifische Gegebenheiten des Landes eingeht“, sagt der Statistiker. Aufgrund unterschiedlicher Zielsetzungen liegen Indizes teilweise unterschiedliche Methoden zugrunde.
Der CPI bezieht sich auf die Wirkung reiner Preise
Der HVPI wird seit 1997 nach den gemeinsamen europäischen Leitlinien berechnet und von Eurostat überwacht. „Der IPCA ist besser geeignet, um den Wechselkurs von Preisen europaweit zu messen und Querschnittsdaten zu vergleichen. Folglich ist die Zusammensetzung des Warenkorbs unterschiedlich“, sagt Islam. Nicht berücksichtigt werden beispielsweise Konsumausgaben für Glücksspiele, die Zahlung von Rundfunkgebühren oder die theoretischen Kosten für Wohneigentum. Dadurch hätten beispielsweise Energieträger ein vergleichsweise höheres Gewicht im HVPI. Der sogenannte Warenkorb enthält eine möglichst repräsentative Auswahl verschiedener Waren, aus denen Preisindex und Inflation ermittelt werden.
Auch der Substitutionseffekt spielt laut Islam eine wichtige Rolle. „Wenn zum Beispiel ein Verbraucher merkt, dass ein Produkt – wie Butter – teurer geworden ist, greift er zu einem billigeren wie Margarine. Diesen Effekt wollen wir nicht mit dem CPI abbilden“, sagt Islam. Ein reiner Preisvergleich kann nur kalkuliert werden, wenn die ungefähre Struktur des Warenkorbs, also die Menge der einzelnen Warengruppen, gegenüber dem Basiszeitraum gleich bleibt.
„Bei IPCA und CPI geht es nicht darum, den Preis eines bestimmten Nutzenniveaus zu messen, sondern lediglich um die Auswirkungen auf den Preis der Waren im repräsentativen Warenkorb“, betont der Experte. Daher wird der nationale Verbraucherpreisindex nach den Maßnahmen des Jahres 2015 gewichtet und nur alle fünf Jahre aktualisiert. Im Gegensatz dazu wird die von Eurostat verwendete Gewichtung des IPAC jährlich angepasst.
Die jährliche Aktualisierung der Gewichte verursacht Abweichungen
Die Aktualisierung der Warengewichte erklärt laut Destatis „einen wesentlichen Teil der Abweichung zwischen dem VPI und dem deutschen VPI“. „Der hohe Unterschied ist sehr überraschend. Früher lagen die Unterschiede nur zwischen 0,1 und 0,2 Prozentpunkten“, erklärt Islam. Während der Corona-Krise und ihren Folgen für das öffentliche Leben hat sich das Kaufverhalten der Menschen jedoch deutlich verändert. Denn viele Haushalte haben ihr Konsumverhalten an Geschäftsschließungen und Einschränkungen der Freizeitgestaltung angepasst. Dies wird nicht im nationalen CPI, sondern im CPI berücksichtigt.
Freizeit, Unterhaltung und Kultur wurden 2020 mit 114,19 Prozent deutlich höher gewichtet als 2021 (96,82 Prozent) und 2022 (97,20 Prozent), als vieles davon pandemiebedingt nicht möglich war. Auch die Bedeutung von Verpflegungs- und Beherbergungsleistungen sowie von Bekleidung und Schuhen hat aufgrund sinkender Preise abgenommen. Demgegenüber gewannen Nahrungsmittel und Getränke sowie Wasser, Strom und Gas für den HVPI an Bedeutung. Energieträgerpreise wirken sich aufgrund ihres höheren Gewichts entsprechend stärker auf den VPI aus als auf den VPI.
Welcher Index und die damit verbundene Inflationsrate ausschlaggebend sind, ist nicht abschließend geklärt. Für Kriwoluzky, Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Freien Universität Berlin, ist das IPCA wichtig wegen seiner Bedeutung für die …