Stand: 27.07.2022 01:29 Uhr
Tunesien hat die umstrittene neue Verfassung mit großer Mehrheit angenommen. 94,6 % der Bürger stimmten für das Projekt, bei einer Wahlbeteiligung von nur 30,5 %. Anwälte fürchten die Bildung eines diktatorischen Regimes.
Tunesiens umstrittene neue Verfassung wurde nach vorläufigen Daten in dem von der Opposition boykottierten Referendum mit einer Mehrheit von 94,6 Prozent angenommen. Das teilte der Leiter der Wahlbehörde von Isie, Farouk Bouasker, mit.
Die Beteiligung lag bei nur 30,5 %. Laut Isie haben 2,75 Millionen Wähler ihre Stimme abgegeben. Trotz der geringen Wahlbeteiligung von nicht einmal einem Drittel der Wähler kann die Verfassung in Kraft treten.
Die Einführung einer neuen Verfassung ist Teil einer von Präsident Kais Saied vorangetriebenen politischen Umstrukturierung. Die neue Verfassung sieht vor, dass der Präsident unter anderem die Regierung und die Richter ernennen und entlassen kann. Es sollte auch die Befugnis haben, das Parlament aufzulösen.
Die Opposition befürchtet ein autoritäres System
Opposition und Nichtregierungsorganisationen befürchten, dass das nordafrikanische Land durch die Verfassungsänderungen zu einem autoritären System zurückkehrt.
Sowohl die islamistische Ennahda-Partei als auch die säkulare PDL-Partei hatten zum Boykott des Referendums vom Montag aufgerufen und es ohne Rücksprache als “illegales Verfahren” bezeichnet.
Der Anwalt Sadok Belaïd, den Präsident Saïed mit der Ausarbeitung der Verfassung beauftragt hatte, distanzierte sich von der endgültigen Fassung. Er erklärte, es könne “den Weg für ein diktatorisches Regime ebnen”.
Das Land ist gespalten
Vor einem Jahr hatte Saied den damaligen Regierungschef abgesetzt und das Parlament gezwungen, seine Arbeit einzustellen. Schließlich löste er das Parlament vollständig auf. Der Präsident entließ auch Dutzende von Richtern wegen angeblicher Korruption.
Seitdem ist das Land zwischen Anhängern und Gegnern dieser Bewegungen gespalten. Seit Monaten gibt es immer wieder Proteste für und gegen den Präsidenten.
Es gibt keine Aufsichtsbehörde für Präsidenten
Nach den arabischen Aufständen von 2010 gelang Tunesien als einzigem Land der Region der Übergang zur Demokratie. Die neue Verfassung würde jedoch viele demokratische Errungenschaften zunichte machen.
Die neue Verfassung sieht keine Autorität mehr vor, die den Präsidenten kontrollieren oder gar seines Amtes entheben kann. Daher wurde das Verfassungsreferendum auch als Entscheidung über Saieds bisherige Führung gewertet.