Gipszähne sind eine Mineralisationsstörung: „Zähne sind etwa zehnmal weicher als normale Zähne. Man kann sie sich wie Nesselsucht vorstellen. Diese Hohlräume sind nicht leer, sondern voller Eiweiße, die sich im Rahmen der Schmelzbildung nicht zersetzen.“ „So hat Professor Dr. Dr. Norbert Krämer, Leiter der Poliklinik für Kinderzahnheilkunde der Universität Gießen, beschreibt das Phänomen. Dadurch verfärben sich auch die Zähne oft, reagieren sehr empfindlich auf Hitze und Kälte und entwickeln häufiger Karies. Experten bezeichnen die Störung auch als Hypomineralisierung der Molaren-Inzisiven, kurz MIH. Es betrifft Zähne, die früh mineralisieren, sogar nach der Geburt; die ersten großen Molaren sind besonders häufig. „Aber jetzt sehen wir MIH auf allen bleibenden Zähnen“, sagt Kramer.
Gipszähne werden immer häufiger
Laut der Deutschen Mundgesundheitsstudie 2016 leiden mehr als ein Viertel der Zwölfjährigen unter Gipszähnen. Damit ist der Anteil in dieser Altersgruppe noch höher als bei Karies. In diese Studie wurden laut Krämer neben MIH auch andere strukturelle Schädigungen der Zähne einbezogen. „Speziell für dieses Krankheitsbild gibt es auf nationaler Ebene bisher keine belastbaren Zahlen.“ Regionalen Studien zufolge steigen die Fallzahlen rasant: In Hessen beispielsweise stieg der Anteil der Kinder mit Gipszähnen zwischen 2003 und 2015 um 59 Prozent.
Forscher wissen noch wenig über die Ursachen von Gipszähnen. Neuen Forschungsergebnissen zufolge könnten häufige Atemwegserkrankungen im ersten Lebensjahr eine Rolle spielen, die zu Sauerstoffmangel im Blut führen. Dies wiederum beeinflusst die Bildung des Zahnschmelzes. „In diesem Zusammenhang werden häufig Antibiotika verabreicht, was ebenfalls ein möglicher Auslöser sein kann. Als Ursache wird auch die Gabe von Wehenhemmungsmitteln bei der Geburt diskutiert“, sagt Krämer. Zudem ist es als Ursache für Calciummangel denkbar, den Ärzte in den letzten Jahren immer häufiger bei Kindern feststellen konnten. Auch hormonaktive Substanzen wie Bisphenol A, das in vielen Plastikgegenständen wie Schnullern, Plastiktellern oder Dosen vorkommt, stehen im Verdacht. Studien mit Ratten haben bereits einen Zusammenhang mit der MIH-Entwicklung gezeigt. Studien am Menschen fehlen jedoch noch.
Laut Krämer ist weitere Forschung notwendig, um die Ursachen eindeutig zu klären und auch vorbeugende Maßnahmen zu ermöglichen. „Bei Karies ist eines klar: Zucker vermeiden, Zähne regelmäßig und sorgfältig putzen, Fluorid auftragen. Zur Vermeidung von Gipszähnen können wir im Moment noch keine Tipps geben“, sagt Krämer. Eine unbefriedigende Situation, da die Störung viele betroffene Kinder bis ins Erwachsenenalter begleiten kann.
Regelmäßig zum Zahnarzt
Eltern können jedoch etwas tun, nämlich die ersten drei Vorsorgeuntersuchungen beim Zahnarzt, auch FU (Früherkennungsuntersuchungen) genannt. „Bei MIH ist die FU3-Untersuchung besonders wichtig. Hier empfehle ich Eltern, diesen Termin am Ende des empfohlenen Zeitraums zwischen dem 30. und 33. Lebensmonat zu vereinbaren. Dann sind oft schon die zweiten Milchmolaren sichtbar. Das wird es Wird ja eine Mineralisationsstörung festgestellt, ist das Risiko einer MIH bei bleibenden Zähnen elfmal größer“, erklärt Krämer. In diesem Fall ist alle vier bis sechs Monate eine Kontrolle erforderlich, bei der die Zähne gereinigt und mit Fluorid behandelt werden, um Karies vorzubeugen und die Entwicklung des Zahnschmelzes genau zu überwachen. Wie immer gilt: Je früher Gipszähne erkannt werden, desto besser sind die Chancen, bleibende Schäden an den Zähnen durch eine Behandlung zu verhindern.